Shades Tours – Echte Menschen, echte Geschichten

Eine bewegende Tour zum Thema Obdachlosigkeit in Österreich führte die 4A im März 2022 durch.

Im Deutschunterricht haben die Schüler*innen dann ihre Eindrücke zu Reportagen verarbeitet:

Auf den Spuren der Schattenseiten Wiens

Eine Reportage zur Shades Tour über Obdachlosigkeit von Theodor Rinne

„Es könnte jeden treffen!“, so beginnt der circa 55-jährige Mann seine Tour durch das „andere“ Wien. Unser Guide, von seinen Freunden auf der Straße Schweizer genannt, steckt heute in militärisch aussehenden Stiefeln, dazu passender Camouflage-Hose und -Jacke. Auf dem Kopf trägt er eine neu wirkende Mütze und um den Hals einen dünnen Schal. „Es hängt nicht davon ab, ob man wohlhabend, alkoholabhängig oder arm ist“, erzählt er mit starkem Schweizer Akzent. „Ich war in einer Beziehung, hatte ein eigenes Lokal und Besucher gab es genug. Jedoch begann das Übel, als ich spät abends alkoholisiert auf dem Motorrad einen Unfall baute. Ich musste einen Kredit aufnehmen, um den anderen Mann, der mich mit seinem Laster angefahren hatte, ausbezahlen zu können. Meine Freundin warf mich daraufhin aus der Wohnung und riss sich das Lokal unter den Nagel. So stand ich mit meinem Kredit und ohne Schlafplatz auf der Straße und wusste nicht wohin. Meine Freunde wollten oder konnten mich nicht aufnehmen, von meiner Familie lebte kaum noch jemand und meine Mutter war im Heim. Nun bin ich bereits 17 Jahre auf der Straße.“ Nach dieser berührenden Eröffnung führt uns der Schweizer an diesem kalten Wintermorgen durch die Wiener Innenstadt. Unser erster Halt ist eine U-Bahn-Station. Er berichtet uns von der brutalen Art, mit der er schon öfter von dort vertrieben wurde. Alle hängen an seinen Lippen und lauschen gespannt seinen Schilderungen. Der zweite und dritte Stopp unserer Tour sind soziale Einrichtungen, die obdachlosen Menschen entweder Schlafplätze, Essen oder neue Kleidung schenken. Der Guide erzählt uns, wie schwer es vielen fällt, Hilfe anzunehmen, dass es allerdings wichtig sei, niemals allein draußen zu übernachten. Die Nächte im Freien seien gefährlich. Hierzu erzählt er uns von einem erschütternden Vorfall aus seinem Freundeskreis: „Mein Freund hatte nichts Böses getan. Er schlief hinter einem Busch und dachte sich nichts dabei.“ Er macht eine Pause und schnäuzt sich. „Plötzlich kamen vermutlich Jugendliche und überschütteten ihn mit Benzin und zündeten ihn an!“ Alle sind still und wirken bedrückt. „Zum Glück überlebte er, doch die Bande, die ihm das angetan hat, wurde nie gefasst.“ Ich finde es schrecklich und unvorstellbar, so etwas zu tun.

Der Guide hat Tränen in den Augen, doch er wischt sie weg und geht mit uns weiter. Der letzte Ort, an dem wir halten, ist der Stephansplatz. Der Schweizer berichtet uns hier, wie Obdachlose Geld verdienen. Er erzählt uns von illegalen und legalen Methoden und wofür man das Geld am dringendsten braucht. „Für Essen? Nein! Fürs Trinken und für Alkohol oder Drogen? Auch nicht! Es ist das Klo! Beinahe alle öffentlich zugänglichen Toiletten verlangen heutzutage Geld, und nicht gerade wenig. Ein Mensch muss täglich etwa fünf- bis sechsmal aufs Klo. Wenn man für jedes Mal 50 Cent bezahlen muss, läppert sich das.“ Nun zeigt er uns ein paar der beliebtesten und meistgenutzten Bettelplätze in Wien. „Im Gegensatz zu anderen Großstädten Europas ist das Betteln in Wien nicht verboten, solange es sich nicht um offensives Betteln handelt.“

An dieser Stelle endet unsere Führung. Am Heimweg ist mein Blick auf die Straßen Wiens und die Menschen, für die diese Straßen ihr Zuhause sind, ein anderer. Er wird es bleiben.

Theodor Rinne (4A)

Ein Leben in Angst

Eine Reportage zur Shades Tour über Obdachlosigkeit von Kelani Schellander und Merlin Kriegl  

Ein Mann sitzt auf der Straße. Nicht, um dort zu essen. Im Gegenteil: Er lebt hier. Jetzt ist es schon warm, doch er hat in der Nacht gefroren. Viele Menschen in Österreich erleben so etwas tagtäglich. Genauer gesagt gibt es im Moment 15 000 Menschen ohne Obdach in ganz Wien, wobei die Zahl sehr ungenau zu ermitteln ist. Mit Obdachlosigkeit beschäftigt sich außerdem Daniel, der früher selbst Teil der Szene war. Er bietet sogenannte Schades Tours an, welche man buchen kann, um mehr über das Thema Obdachlosigkeit zu erfahren.

„Es kann jeden treffen!“, erklärt er, „Und das schneller, als man denkt.“  Kein Gemurmel. Niemand wagt es, den spannenden Bericht des Obdachlosen, in seinem Kreis auch „Schweizer“ genannt, zu unterbrechen. Meine sonst eher unruhige Klasse steht nun in einem Halbkreis um den Mitte Fünfzig Jahre alten Mann. Hinter uns ragt der Stephansdom weit in die Höhe. Dass man nicht jedem Obdachlosen seine Obdachlosigkeit ansieht, war mir schon bewusst. Jedoch wusste ich nicht, dass man täglich an etwa 20 bis 30 Obdachlosen vorbeigeht, ohne es zu bemerken.

Meine Klasse setzt sich in Bewegung und wir überqueren den Stephansplatz zu einer nahegelegenen U-Bahnstation. Dieses leichte Schuldgefühl verlässt mich nicht. Die meisten hier und noch viele mehr in Wien gehen einfach so an diesen Menschen, die dringend unsere Hilfe bräuchten, vorbei, ohne sich darum zu kümmern. Ein Blick in die Gesichter meiner Mitschüler verrät mir, dass es ihnen ähnlich geht. Sozialeinrichtungen wie die Caritas stehen den über 10 000 Obdachlosen in Wien stets zur Seite, dennoch bohrt die Frage in mir: „Können wir nicht auch helfen?“

„Es stimmt schon, dass es Kriminalität unter Obdachlosen gibt, jedoch eher aus Verzweiflung.“ Nach diesen Worten unseres Guides gehen wir weiter auf unserer Erkundungstour durch die Schattenseiten Wiens. Der Schweizer führt uns durch schmale Gassen zu einem kleinen Brunnen vor einer Kirche. Die gesamte Klasse sitzt am Rand des Brunnens und wartet gespannt auf die nächsten Worte des Mannes. Der recht kleine Franziskanerplatz erstreckt sich vor uns und der Schweizer beginnt, von seiner schicksalshaften Geschichte und seinen bescheidenen Träumen zu erzählen: „Bald werde ich in meine langersehnte Wohnung einziehen und ich habe eine Lebensversicherung abgeschlossen. Dank dieser Führungen, für die ich bezahlt werde, konnte ich mir ein wenig Geld ansparen.“ Ich freue mich für den Mann und da bin ich nicht die Einzige. Sich aus so einem tiefen Loch zu ziehen ist hart und verlangt ein unglaubliches Maß an Willenskraft und Ehrgeiz. Durch die Shades Tours wird es vielen Obdachlosen ermöglicht, auf würdevolle Art und Weise ein wenig Geld zu verdienen.

Applaudierend und dankend verabschieden wir uns und treten die Heimreise an. Das Gehörte hallt noch lange in unseren Köpfen nach. Ich werde in nächster Zeit versuchen, Kleidung oder anderes zu spenden, um jene Menschen zu unterstützen, die es wirklich nötig haben.

Kelani Schellander und Merlin Kriegl (4A)